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Interdisziplinäre Forschung: die Alles- und Nichtswisserin

Zwei Forscherinnen
© Getty Images/valentinrussanov

Die Alles- und Nichtswisserin

Die interdisziplinäre Forschung hatte schon immer viele Kritiker. Unsere Gastautorin Aruna Dhathathreyan arbeitet jedoch seit jeher interdisziplinär. In diesem Beitrag berichtet sie von den Hürden, die sie überwinden musste, und schildert, wie diese sie dazu animiert haben, hart an ihrer „Identität“ zu arbeiten.

Als Wissenschaftlerin, die in einem Labor in Indien arbeitet, hörte ich oft mit, wie meine Kolleginnen und Kollegen über den Einflussfaktor der Fachzeitschriften sprachen, in denen sie ihre Arbeiten veröffentlichen. Unsere Organisation erstellte daher einmal eine Rangliste der Wissenschaftler, die zumindest teilweise auf solche Kennzahlen angewiesen sind, u. a. anhand folgender Kriterien: Veröffentlichungen, Anzahl der Graduiertenprojekte, erhaltene externe Projektzuschüsse, abgehaltene Lehrveranstaltungen, Mitwirkung in Kommissionen usw. Ich bin kein großer Fan solcher Rankings, da sie meiner Meinung nach selten wirklich objektiv sind. Aus irgendeinem Grund messen und klassifizieren jedoch viele Menschen gern die Leistung anderer – dagegen zu argumentieren, dürfte zwecklos sein.

Der Einflussfaktor eines Journals bemisst sich in Zitierungen, was als Maßzahl durchaus tauglich sein mag, doch unterliegt auch dieses Kriterium gewissen Besonderheiten. Dies gilt insbesondere für fachspezifische Zitierungen, denn jedes Fachgebiet erreicht ein bestimmtes Publikum, das sich hinsichtlich Größe und Interessenlage unterscheidet. Allerdings veröffentliche ich meine Arbeiten sehr gerne in Fachzeitschriften, und ich halte Zitierungen für kein gänzlich ungeeignetes Maß der Bedeutung einer Publikation, solange die Artikel und ihre Verfasser objektiv analysiert werden.

Interdisziplinäre Forschung: ein Heiliger Gral

Auf der anderen Seite kann ich nur schwer nachvollziehen, nach welchen Maßstäben Wissenschaftler bewertet werden, die ihre Beiträge im Rahmen einer Mehrautorenschaft in Zeitschriften veröffentlichen. So zählte etwa ein Paper über die antivirale Therapie von HIV-Patienten in Europa und Nordamerika, das 2005 in Clinical Infectious Diseases erschien, 859 Verfasserinnen und Verfasser. Ganz sicher steuerten alle diese Autoren oder deren Arbeitsgruppen aus ihrer jeweiligen Perspektive sinnvolle Beiträge zum Gesamtergebnis bei. Doch wie bewertet man den Beitrag einzelner Autoren zu einer derartigen Publikation, selbst wenn sie in einem sehr renommierten Fachjournal erschien?

Heutzutage kann es als Tatsache gelten, dass die interdisziplinäre Forschung in wissenschaftlichen und technischen Fachbereichen ein Heiliger Gral ist, der nur mit fachlichem und methodischem Wissen aus mindestens zwei Disziplinen zu nutzbringenden neuen Ideen, Prozessen oder Ergebnissen führen kann. In solchen Fällen haben Publikationen notwendigerweise mehrere Autoren. Doch auch dann kommt es nur sehr selten vor, dass jemand in zwei oder mehr Disziplinen über sehr profunde Kompetenzen und Kenntnisse verfügt.

Ein vielseitiger Forschungsansatz

Glücklicherweise gibt es in der Wissenschaft und Technik fest etablierte Mechanismen, die Hochstapler daran hindern, mit Begriffen und Fachjargon aus anderen Domänen Eindruck bei Experten auf verschiedenen Gebieten zu schinden, ohne in der Sache irgendetwas Sinnvolles beizutragen. Während wissenschaftliche Konzepte von Wissenschaftlern experimentell geprüft werden, lassen sich Prozesse und Produkte simulieren, prototypisch darstellen, testen und auf ihre Leistung hin bewerten. Schwindler fliegen daher schnell auf.

Bis Mitte der 90er-Jahre war diese Art der interdisziplinären Forschung nicht sehr angesehen. Als ich in den 80ern nach dem Abschluss meines Physikstudiums mit der Fachrichtung Elektronik , befasste ich mich mit Nukleotiden, also molekularen Bausteinen, die Bindungen mit DNA und RNA eingehen. Die Betreuung übernahmen drei Experten mit je unterschiedlichem Fachgebiet: Kristallografie, chemische Physik und Chemie. Für meine Freunde und Kollegen war dieser vielseitige Forschungsansatz Anlass für große Verblüffung.

Mein erster Postdoc-Aufenthalt am hatte zum Ziel, die „molekulare Selbstorganisation und den Ursprung des Lebens“ zu verstehen. Dazu arbeitete ich mit Molekularbiologen, organischen Chemikern, Fotochemikern, Maschinenbauern, Elektroingenieuren und Mikroskopikern zusammen.


Während dieser Zeit baute ich mein erstes Spektrometer von Grund auf selbst und lernte, einen Atari-Computer zu bedienen, der nur mit funktionierte. Eine gewisse Zeit lang beschäftigte ich mich mit Sinnesphysiologie und arbeitete parallel dazu an Fotorezeptoren von Wirbellosen, zusammen mit Medizinern, Biologen und zwei Teammitgliedern aus den Bereichen Physik und Elektrotechnik. Ich galt als „biophysikalische Chemikerin“ der Gruppe – eine Bezeichnung, die ich mit Stolz verwendete. In sehr unterschiedlichen Fachgebieten setzte ich meine Prioritäten so, wie es für meine Zwecke vernünftig war, und veröffentlichte auch meine Ergebnisse.

Die richtigen Forschungsfragen stellen

Als ich Anfang der 90er-Jahre nach Indien zurückkehrte, stellte ich fest, dass die interdisziplinäre Forschung vielen noch immer als potenzielles Minenfeld galt. Viele Disziplinen der Naturwissenschaften steckten in ihren traditionellen Ansätzen fest. Die Zusammenarbeit mit Kollegen, die an solche Herangehensweisen gewöhnt waren, gestaltete sich schwierig. Einmal fragte mich eine Koryphäe aus einem namhaften indischen Forschungsinstitut abschätzig, was denn biophysikalische Chemie sein solle und ob es sich dabei um einen Kniff handle, um mich auf kein Fachgebiet festlegen zu müssen.

Zum Glück förderte der Leiter meines Labors meine Arbeit, die verschiedene Fachrichtungen der Chemietechnik, Biophysik und Werkstoffchemie zusammenführte. Als ich ihm gegenüber meine Bedenken äußerte, als „Alles- und Nichtswisserin“ abgetan zu werden, gab er mir diesen Rat: „Bei guter interdisziplinärer Forschung geht es weniger darum, den Anforderungen aller einzelnen Disziplinen zu genügen, als darum, die richtigen Forschungsfragen zu stellen, die die Leistungen anderer Disziplinen würdigen.“

Ich blieb also bei der interdisziplinären Forschung und lernte dabei einige wichtige Lektionen. Ich musste mich gegen den Vorwurf älterer Kollegen verwahren, interdisziplinäre Forschung sei inkonsequent, weil sie nicht in die fachliche Tiefe gehe. Diese Kollegen sprachen mir daher ab, auf irgendeinem Gebiet Spezialistin zu sein.
Dies hat mich allerdings dazu motiviert, meine Arbeit unbeirrt fortzusetzen und meine eigene „Identität“ als jemand zu entwickeln, der verschiedene Disziplinen aufeinander abstimmt und ihnen zuarbeitet. Ich habe viel dazugelernt, indem ich immer offen für Fragestellungen anderer Fachbereiche zu gemeinsamen Forschungsgegenständen blieb und nach Wegen suchte, meine Methoden in diese Bereiche zu integrieren. Außerdem habe ich versucht, Bande zu Forscherinnen und Forschern aus anderen Disziplinen zu knüpfen, und dabei neue, anregende Perspektiven kennengelernt, ohne meinen Forschungsschwerpunkt aus den Augen zu verlieren.

Mein Anspruch war stets, auf der Grundlage meiner Ziele Risiken und Chancen gegeneinander abzuwägen. Als interdisziplinär arbeitende Wissenschaftlerin kann ich mir die Freiheit und Flexibilität erlauben, mich mit vielen Disziplinen zu beschäftigen und ständig Neues zu lernen. Am Anfang dieser Reise stand mein Forschungsaufenthalt in Göttingen, für den ich heute sehr dankbar bin. Ich würde mich jederzeit wieder dafür entscheiden, dazuzulernen, an meinen Aufgaben zu wachsen und eine „Alles- und Nichtswisserin“ zu sein, anstatt mich krampfhaft an überkommenen Methoden festzuhalten.

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