Wegweisende Wahlen nach der Wiedervereinigung
- 2023-12-11
- Miriam Hoffmeyer
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Von 1961 bis 1989 wurde Deutschland von einer Mauer in Ost- und Westdeutschland geteilt. Während im Westen, der Bundesrepublik Deutschland, eine parlamentarische Demokratie etabliert wurde, herrschte im Osten, der Deutsch-Demokratischen Republik (DDR), der Sozialismus unter einer Einparteiendiktatur. Nach Jahren der Teilung fiel am 09. November 1989 die Mauer und ebnete den Weg für eine Wiedervereinigung des gesamten Deutschlands. Am 3. Oktober 1990 trat schließlich die DDR der Bundesrepublik Deutschland bei und die Wiedervereinigung war vollzogen. Knapp zwei Monate nach der Wiedervereinigung, am 2. Dezember 1990, wählten die Deutschen in Ost und West den 12. Deutschen Bundestag. Bei dieser ersten freien Wahl eines gesamtdeutschen Parlaments seit 1932 stand die Frage im Mittelpunkt, wie es mit dem Einigungsprozess weitergehen sollte.
Die Hoffnungen waren groß, die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Herausforderungen noch größer: Nach über 40 Jahren sozialistischer Planwirtschaft hatten die ostdeutschen Betriebe einen enormen technologischen Rückstand aufzuholen. Ihre Handelsbeziehungen mit Osteuropa waren weitgehend zusammengebrochen, denn ostdeutsche Produkte, die nun in D-Mark, der Währung der Bundesrepublik, bezahlt werden mussten, erreichten nicht die Qualität westlicher Produkte. Die ostdeutschen Städte waren sanierungsbedürftig, die Umweltverschmutzung durch die Kohle- und Chemieindustrie erschreckend groß.
Versprechen und Realität: Die Ära Helmut Kohl
Helmut Kohl (CDU), Bundeskanzler der Bundesrepublik, der maßgeblich am Zustandekommen der Wiedervereinigung mitgewirkt hatte, versprühte Optimismus: Die fünf östlichen Bundesländer Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen, die zuvor zur DDR gehörten, würden sich schon bald in „blühende Landschaften“ verwandeln, sagte Kohl. Die Formulierung wurde zum geflügelten Wort – beliebt vor allem bei Satirikern, nachdem die Schwierigkeiten der Transformation in Ostdeutschland immer deutlicher wurden. Den Westdeutschen versprach der Kanzler im Wahlkampf 1990 eine „innere Einheit“ ohne Nachteile, Steuererhöhungen lehnte er ab. Dagegen hielt der Spitzenkandidat der Sozialdemokraten, der saarländische Ministerpräsident Oskar Lafontaine, Steuererhöhungen für unvermeidlich. Lafontaine warnte in seinen Wahlkampfreden vor explodierenden Kosten der Einheit und höherer Staatsverschuldung.
Einzigartige Wahlen: Ost und West im politischen Wandel
Wahlberechtigt waren 1990 rund 60 Millionen Deutsche, etwa ein Viertel von ihnen lebte in Ostdeutschland. Erstmals durften auch die West-Berliner Bürgerinnen und Bürger direkt den Bundestag mitwählen, was wegen des besonderen Status der Stadt vorher nicht möglich gewesen war. Einzigartig war die Aufteilung in ein ostdeutsches und ein westdeutsches Wahlgebiet. Sie sollte die Chancengleichheit für kleinere Parteien in Ostdeutschland sichern, die sich (noch) nicht mit westdeutschen Parteien vereinigt hatten. Denn nach dem Bundeswahlgesetz dürfen Parteien nur dann in den Bundestag einziehen, wenn sie mindestens fünf Prozent der Stimmen erhalten. Wegen der Sonderregelung genügte es 1990, wenn eine Partei nur in einem der beiden Wahlgebiete über die sogenannte Fünf-Prozent-Hürde kam. Als Folge konnte die Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS), die aus der DDR-Regierungspartei SED hervorgegangen war und im Osten elf Prozent der Stimmen bekam, in den Bundestag einziehen. Die westdeutschen Grünen scheiterten an der Fünf-Prozent-Hürde: Für ihr Wahlkampfthema, den Ausstieg aus der Atomenergie, interessierte sich so kurz nach der Wiedervereinigung kaum jemand. Die Listenvereinigung der ostdeutschen Grünen und der früheren DDR-Bürgerrechtsbewegung „Bündnis 90“ kam dagegen im ostdeutschen Wahlgebiet auf sechs Prozent und damit in den Bundestag.
Historischer Sieg: CDU/CSU und FDP dominieren die Wahl
Alle Prognosen sagten einen klaren Sieg der christdemokratisch-liberalen Regierungskoalition unter Helmut Kohl, dem „Kanzler der Einheit“, voraus. So kam es auch: Die CDU/CSU erzielte bundesweit 43,8 Prozent. Ihr kleinerer Koalitionspartner FDP, angeführt vom sehr beliebten Außenminister Hans-Dietrich Genscher, gewann Stimmen hinzu und kam auf elf Prozent. Die zweite große Volkspartei, die SPD, stürzte auf 33,5 Prozent ab, ihr schlechtestes Ergebnis seit 1957. Lafontaines Pessimismus war bei den Wählerinnen und Wählern nicht angekommen.
Symbolischer Ort: Die konstituierende Sitzung in Berlin
Obwohl die Bundesrepublik damals noch von Bonn aus regiert wurde, fand die konstituierende Sitzung des ersten gesamtdeutschen Bundestags am 20. Dezember 1990 aus symbolischen Gründen im Berliner Reichstagsgebäude statt. Am 17. Januar 1991 wurde Helmut Kohl vom Bundestag erneut zum Kanzler gewählt. In seiner Regierungserklärung versprach er gleiche Lebensverhältnisse in Ost und West, eine schnelle „geistige, kulturelle, wirtschaftliche und soziale Einheit Deutschlands“.
Doch die ließ länger auf sich warten als erhofft: Die finanziellen Belastungen durch den „Aufbau Ost“ erwiesen sich als so groß, dass schon bald eine neue Steuer eingeführt werden musste, der „Solidaritätszuschlag“. Der Niedergang der ostdeutschen Wirtschaft war dramatisch: Ein großer Teil der Betriebe wurde geschlossen, rund 1,6 Millionen Industrie-Arbeitsplätze gingen verloren. Die flächendeckende Massenarbeitslosigkeit in den 1990er-Jahren führte zu großer gesellschaftlicher Unzufriedenheit in Ostdeutschland. Auch weil häufig Westdeutsche die Führungspositionen in Wirtschaft und Verwaltung übernahmen, fühlten sich viele ehemalige DDR-Bürgerinnen und -Bürger als „Deutsche zweiter Klasse“. Erst nach und nach wurden die Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland immer kleiner. Die Frage der „inneren Einheit“ ist dennoch bis heute ein Thema, das die Deutschen bewegt.