Was lesen die Deutschen?
- 2023-10-16
- Ulrike Scheffer
- Kommentare
Menschen in Deutschland lesen wieder mehr. Vor allem Krimis haben es ihnen angetan – aber nicht nur. Die Shortlist des Deutschen Buchpreises ist ein Gradmesser für Gegenwartsliteratur.
Wenn Stephen King einen neuen Thriller veröffentlicht, landet er garantiert ganz oben auf den Bestsellerlisten des deutschen Buchmarkts. So auch sein Anfang September 2023 erschienener Band „Holly“. In der Tat sind Krimis und Thriller traditionell die beliebtesten Genres in Deutschland. Der US-amerikanische Autor Stephen King gehört ganz klar zu den Lieblingsautoren. Aber wie sieht es mit den deutschen Autoren und Autorinnen aus? Zu den beliebtesten gehört unter anderem der Berliner Autor Sebastian Fitzek, dessen Geschichtennichts für schwache Nerven sind. Weit über Deutschland hinaus bekannt ist außerdem Ferdinand von Schirach. Er hat sich mit kriminalistischen Kurzgeschichten einen Namen gemacht, die auf Fällen aus seiner eigenen Praxis als Anwalt basieren.
Es muss nicht immer ein Krimi sein
Man könnte sagen: Krimis und Thriller gehen in Deutschland immer. Aber auch jenseits dieses Trends und trotz der durch Hörbuch-Apps vorangetriebenen Entwicklung, Unterhaltungsliteratur passgenau für bestimmte Zielgruppen produzieren zu lassen, findet anspruchsvolle Literatur in Deutschland nach wie vor viele Leserinnen und Leser.
Insgesamt lesen die Deutschen laut einer Untersuchung der Gesellschaft für Zukunftsfragen seit der Coronapandemie sogar wieder mehr. 35 Prozent der Bürgerinnen und Bürger vertiefen sich danach mindestens einmal in der Woche in ein Buch, 14 Prozent greifen lieber zum E-Book.
Die Wiedervereinigung bleibt das Topthema
Doch was lesen die Deutschen, wenn es mal kein Krimi sein soll? Ein wichtiger Gradmesser sind die beiden deutschen Buchmessen, im Frühjahr in Leipzig und im Herbst in Frankfurt am Main mit insgesamt rund einer halben Million Besuchenden, sowie die wichtigsten Literaturpreise. Einer davon ist der Deutsche Buchpreis, der am 19. Oktober 2023 in Frankfurt am Main verliehen wird. An der vorab veröffentlichten Shortlist lässt sich ablesen, welche Themen und gesellschaftlichen Fragen die deutsche Gegenwartsliteratur bestimmen. Dazu gehören eindeutig die deutsche Wiedervereinigung und das Leben in der DDR. Außerdem gewinnen – ähnlich wie in Frankreich – junge Autorinnen und Autoren aus Einwandererfamilien Aufmerksamkeit, die ihre Lebenserfahrungen und ihre Identitätsfindung literarisch verarbeiten.
Rollenbilder und toxische Beziehungen
Natürlich schreiben deutsche Schriftstellerinnen und Schriftstellerauch über das wohl bedeutendste Thema der Literaturgeschichte: die Liebe. Besonders setzen sich dabei verstärkt mit Rollenbildern und toxischen Verbindungen auseinander. Ein Beispiel ist das Buch „Muna oder Die Hälfte des Lebens“ von Terézia Mora, das für den Deutschen Buchpreis nominiert ist und zu den aktuellen Bestsellern in Deutschland gehört. Es handelt von der Beziehung einer jungen Frau zu einem unbeherrschten und unberechenbaren Mann. „Wie viel Kälte kann ein Mensch ertragen, ohne zu zerbrechen, ohne sich ganz und gar zu verlieren?“, heißt es im Kommentar der Preis-Jury. Moras „schnörkellose, lakonische Prosa“, urteilen die Jurorinnen und Juroren, entfalte vom ersten Satz an einen Sog, dem man sich nicht entziehen könne.
Migrantisches Schreiben
Terézia Mora ist Ungarin, sie schreibt aber ausschließlich auf Deutsch. Auch andere haben den deutschen Buchmarkt in den vergangenen Jahren bereichert: Der aus Bosnien stammende und vielfach ausgezeichnete Saša Stanišić und Nino Haratischwili aus Georgien sind nur zwei Beispiele von vielen.
Den gesellschaftlichen Bruchlinien auf der Spur
Ein weiterer für den Deutschen Buchpreis nominierter Titel ist „Die Möglichkeit von Glück“ von Anne Raabe. Er zeichnet das Leben einer Familie in einer Kleinstadt der DDR in der Wendezeit nach. Anne Raabe beschreibt das Chaos einer Gesellschaft in Auflösung und sucht nach Ursachen von Rassismus und Demokratiefeindlichkeit. 34 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer sind diese Fragen aktueller denn je. Denn die gesellschaftlichen Bruchlinien zwischen Ost- und Westdeutschland haben sich teilweise noch verstärkt. In den ostdeutschen Landesteilen wenden sich immer mehr Menschen rechten Parteien oder Bewegungen zu, weil sie sich von den Institutionen des wiedervereinigten Staates nicht vertreten fühlen.
Die Auseinandersetzung mit dieser Entwicklung und ihren historischen Ursachen ist ein Schlüsselthema der deutschen Gegenwartsliteratur. Auch die Erfolgsschriftstellerin Juli Zeh hat ihr zuletzt erschienenes Buch „Zwischen Welten“, das sie gemeinsam mit ihrem Autorenkollegen Simon Urban verfasst hat, dieser Problematik gewidmet. Es scheint sogar, dass dieses noch relativ junge Kapitel der deutschen Geschichte die literarische Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus ein wenig verdrängt.
Eine neue Generation von Schreibenden
Was auffällt: Zunächst schrieben vor allem Autorinnen und Autoren über die Wendezeit, die selbst noch in der DDR aufgewachsen sind, so wie Christoph Hein oder Uwe Tellkamp. Nun tun dies vermehrt auch solche, die erst kurz vor dem Mauerfall oder danach auf die Welt gekommen sind. Anne Raabe, geboren 1986, ist eine von ihnen. In „Die Möglichkeit von Glück“ setzt sie sich kritisch mit ihrer Elterngeneration auseinander. Eine Generation, die, so kommentiert die Jury des Deutschen Buchpreises, „verzweifelt am Ankommen in der neuen Realität“.
Raus aus dem Elfenbeinturm
Anne Raabe repräsentiert gleichzeitig ein neuen Schriftstellertyp. Anders als die Generation der sogenannten Großschriftsteller wie Günter Grass, Martin Walser oder Christa Wolf sitzen viele junge Schreibende nicht mehr im sogenannten Elfenbeinturm und betrachten das Leben sozusagen aus der Vogelperspektive. Literatur ist für sie ein wichtiges, aber nicht das einzige berufliche Betätigungsfeld. Manche verfassen Drehbücher für TV-Serien oder, wie Raabe, Songtexte. Andere, etwa Mithu M. Sanyal oder Alexander Osang, sind für die Presse tätig.
Durchbruch für eine interkulturelle Literatur
Seit Mithu M. Sanyal 2021 ihr Romandebüt „Identitti“ über die Identitätssuche einer indischstämmigen deutschen Studentin veröffentlichte – und damit einen großen Erfolg landete –, hat sich in Deutschland auch ein neues Genre endgültig durchgesetzt: die interkulturelle Literatur von Autorinnen und Autoren, die in Deutschland geboren und aufgewachsen sind, die durch ihre Familiengeschichte aber auch von anderen Kulturen geprägt wurden. So auch Necati Öziri. Er hat es mit seinem neuen Buch „Vatermal“ auf die Shortlist des diesjährigen Deutschen Buchpreises geschafft. Die Jury bescheinigt ihm, in seiner Abrechnung mit einem abwesenden Vater den Sound der Straße einzufangen: „Wütend, schlagfertig, witzig und zart. Seine jugendlichen Helden suchen Orientierung in einer Gesellschaft, in der sie nie wirklich ankommen.“ Öziri, so kommentieren die Jurorinnen und Juroren, öffne dem Lesepublikum für diese deutsche Realität die Augen.