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Drei Fragen zu SDG 1 – Keine Armut

Agenda 2030
SDG Ziel 1: Keine Armut
Karl Chan, Bowery Mission
© 1014, Inc.

Wir sprachen mit Karl Chan über Armut in New York City. Karl Chan ist stellvertretender Direktor der Bowery Mission und verantwortlich für Partnerschaften. Zusammen mit seiner Frau zog er 2018 von Australien in die Vereinigten Staaten. Seine Leidenschaft für Gerechtigkeit und soziale Gleichberechtigung führte ihn zu seiner aktuellen Rolle bei der Bowery Mission, die sich seit 1870 um obdachlose und hungrige New Yorker:innen kümmert. Karl Chan hält sich durch Tennisspielen fit und ist zudem Amateurfotograf. 

1014: Erleben Sie in der Bowery Mission, dass die Menschen in New York City, einer der reichsten Metropolen der westlichen Welt, von Armut betroffen sind?

Karl Chan: Armut gibt es in New York City überall, geht aber im Glitzern von Wall Street, Broadway, Fifth Avenue, der Met und all den anderen beliebten Sehenswürdigkeiten leicht unter. Sie wird deutlich sichtbar, wenn man innehält und bewusst einen Blick hinter die Fassade dieses Glanzes wirft. Im Schnitt ist eine 1 von 125 Personen obdachlos. Das bedeutet für New York City mit seiner Bevölkerung von 8,4 Millionen Menschen 70.000 obdachlose Männer, Frauen und Kinder.

Zwanzig Prozent der New Yorker:innen, darunter eines von drei Kindern, leben unterhalb der Armutsgrenze. Sechzig Prozent der Amerikaner:innen leben von Gehalt zu Gehalt und schon eine einzige Krise, wie sie etwa durch unbehandelte Gesundheitsprobleme, Arbeitslosigkeit, steigende Mieten, untragbare Wohnverhältnisse, häusliche Gewalt, Substanzmissbrauch, Teenagerschwangerschaften oder systemische Ungerechtigkeit ausgelöst werden kann, kann zu Armut und Obdachlosigkeit führen. Seit 140 Jahren bietet die Bowery Mission denjenigen Fürsorge und Hoffnung, die ihr Zuhause und ihr Sicherungsnetz verloren haben. In New York City hat jede*r ein Recht auf Unterkunft, und in der Bowery Mission versuchen wir, dieses Recht in die Realität umzusetzen. Für jede Person, die auf Gehwegen oder in U-Bahnen schläft, schlafen 17 andere in Obdachlosenunterkünften.

Was tut die Bowery Mission, um Menschen in Not zu helfen? Was sind einige der Aufgaben und Herausforderungen in der Arbeit der Bowery Mission? Gibt es bei der Arbeit freudige Erlebnisse?

Karl Chan: In der Bowery Mission bieten wir Grundversorgung wie Nahrungsmittel, Unterkunft, Duschen, Kleidung und medizinische Untersuchungen. Wir geben jedes Jahr etwa 558.000 Mahlzeiten und 100.000 Kleidungsstücke aus und bieten 140.000 Übernachtungen an. Unsere Mission ist zweifacher Natur. Die erste ist, Hoffnung zu geben und Vertrauen aufzubauen, indem wir diesen grundlegenden Notbedarf erfüllen. Zweitens laden wir Individuen ein, Teil unserer Wohnprogramme zu werden, und helfen ihnen so dabei, Fortschritte hin zu ihrem Ziel eines unabhängigen Lebens zu machen. Wir bieten ein robustes Programm mit einem umfassenden Fürsorgespektrum, das so angepasst wird, dass es die Leute dort abholt, wo sie sind. Manche brauchen ein Kurzzeitprogramm von 3 bis 6 Monaten, eine sichere Umgebung und Hilfe, die beispielsweise berufliche Aus- und Weiterbildung umfasst. Mit unserem Langzeitprogramm (6 bis 15 Monate) erreichen wir diejenigen, die womöglich langfristig obdachlos waren, in Rehabilitation sind oder komplexere Bedürfnisse haben und daher mehr Unterstützung benötigen, um ihr Leben komplett neu aufzubauen. Genauso, wie es vielfältige Gründe gibt, warum Menschen in Not und Obdachlosigkeit abrutschen, gibt es auch keine Einheitslösung für das Entkommen aus der Armut. Unsere Berater:innen, Sozialarbeiter:innen und Botschafter:innen bauen mit jedem Gast, der zu uns kommt, eine vertrauensvolle Beziehung auf Namensbasis auf. So sind wir in der Lage, die ganz persönliche Geschichte jedes Menschen zu hören und den Leuten dabei zu helfen, einen individuellen Weg aus der Obdachlosigkeit zu finden.

Unsere größte Freude und Befriedigung sind die zahlreichen Erfolgsgeschichten, die sich auf unsere Arbeit und auf die Zielstrebigkeit und die Stärken unserer Gäste gründen. Ich bin extrem stolz auf einen meiner Kollegen, der sich – nach 30 Jahren Obdachlosigkeit und einem Crackkonsum in Höhe von $100 pro Tag – endlich für unser Programm anmeldete und jetzt den New York City Marathon gelaufen ist. Insgesamt verfügen 74% aller unserer Programmabsolvent:innen an der Bowery Mission über genügend Einkommen, um ihre Grundbedürfnisse zu decken.  

Was sollte in einer idealen Welt in Ihrem New Yorker Viertel und anderswo getan werden, um das UN-Ziel „Keine Armut“ zu erreichen? 

Karl Chan: Wir werden hier bei der Bowery Mission jedes Jahr von 17.000 Freiwilligen unterstützt. Sie erleben ganz unmittelbar, wie Obdachlosigkeit aussieht, und lernen verstehen, wie sie etwas verändern können. Zudem befinden sich die Büros des Verwaltungspersonals der Bowery Mission größtenteils hier an unserer Notunterkunft – um unser Verständnis für die von uns betreuten Gemeinschaften zu vertiefen. All das trägt dazu bei, existierende gesellschaftliche Barrieren abzubauen – ein kleiner Schritt auf dem langen Weg zu sozialer Gerechtigkeit.

In einer idealen Welt wüssten alle über die Ungerechtigkeit von Armut Bescheid. Aufklärungskampagnen würden dabei eine entscheidende Rolle spielen. Programme für Erwachsene und Kinder würden den Teufelskreis aus Armut und Ungleichheit durchbrechen und Chancen in unterversorgten Gemeinschaften eröffnen. Kinder aus benachteiligten Gemeinschaften stünden Möglichkeiten offen und sie bekämen die Anregungen und das Mentoring, das sie brauchen. Alle hätten eine Stimme und könnten ihre Geschichte erzählen.

In einer idealen Welt würden sich Menschlichkeit und Anteilnahme durchsetzen. Die Menschen würden zuerst an andere denken. Respekt und Würde würden menschliche Interaktionen quer durch alle sozioökonomischen Schichten dominieren und die weitverbreitete vorgefasste Meinung, Obdachlose seien einfach nur faul, würde der Vergangenheit angehören

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