Drei Fragen zu SDG 9 – Industrie, Innovation und Infrastruktur
- 2020-09-29
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Wir sprachen mit Prof. Dr.-Ing. Friedbert Pautzke, der an der Universität Bochum zahlreiche nachhaltige Industrieprojekte ins Leben gerufen hat. Eines davon war das SolarCar, mit dem seine Studierenden 2013 um die ganze Welt fuhren. Heute konzentriert er sich darauf, Studierenden dabei zu helfen, ihre Ideen in nachhaltige Tech-Startups zu verwandeln.
1014: Wie bewerten Sie den aktuellen Status von „nachhaltiger Industrialisierung und Innovation“ in Deutschland und dem Rest der Welt?
Friedbert Pautzke: Die große Herausforderung im Bereich Industrialisierung und Innovation sind die industriellen Prozesse. Wie gestalten wir sie um, sodass sie nachhaltig sind? Insbesondere diejenigen Prozesse, die immer noch mit fossilen Brennstoffen betrieben werden? Statt zu versuchen, alles auf erneuerbare Energien umzustellen, bin ich mittlerweile überzeugt, dass der Schwerpunkt bei nachhaltigen industriellen Prozessen auf der Energieeffizienz liegen sollte. So plädiere ich beispielsweise für Elektromobilität, bei der man ein Auto mit elektrischer Energie bei einem hohen Wirkungsgrad von 60% bis 70% fährt. Zum Vergleich, ein von fossilen Brennstoffen getriebener Verbrennungsmotor erreicht nur einen Wirkungsgrad von 20%. Wenn jedoch sowohl die Leistung als auch die Wärme, die von Verbrennungsmotoren erzeugt werden, sinnvoll genutzt werden können, können Verbrennungsmotoren ebenfalls effizient eingesetzt werden, beispielsweise in Wohnhäusern.
Bei den meisten industriellen Prozessen erzeugen wir zusätzlich zum gewünschten Produkt riesige Mengen an Wärme. So bleiben uns für nachhaltige Industrialisierung und Innovation zwei Wege nach vorne: Entweder finden wir eine Verwendung für die erzeugte Wärme oder wir entwickeln andere industrielle Prozesse, bei denen keine Wärme erzeugt und verschwendet wird.
1014: Wie sieht der Alltag bei Ihren Projekten an der Universität Bochum aus und was sind Ihre Ziele?
Eines meiner Ziele ist es, den Studierenden Verantwortung zu geben und so ihr Potential und ihren Erfindungsreichtum freizusetzen. Während ein 23-Jähriger Handwerksmeister bereits Verantwortung für eine Firma von 30 oder mehr Angestellten haben kann, werden 23-jährige Studierende an der Universität immer noch wie Kinder behandelt. Unser SolarCar-Projekt wurde von den Studierenden selbst geleitet. Sie entwickelten und bauten das Auto, sie planten die Reise um die Welt und führten sie 2013 erfolgreich durch. Mit dem SolarCar haben wir demonstriert, dass Elektromobilität möglich ist, und wir haben sichtbar gezeigt, dass Autos mit Solarzellen auf dem Dach betrieben werden können.
Zu einem weiteren Ziel ist es geworden, Arbeitsplätze zu schaffen, sprich, Studierenden dabei zu helfen, mit dem Knowhow, das sie in unseren Projekten gesammelt haben, Startup-Firmen zu gründen und Produkte zu entwickeln, die sich auf dem Markt bewähren. Ein sehr erfolgreiches Beispiel ist Voltavision, das heute – nach nur acht Jahren – zum größten Batterie- und Leistungselektronik-Testzentrum in Europa geworden ist. Jetzt versuchen wir, unser Konzept zu institutionalisieren: erstens, Studierende identifizieren, die eine Idee haben, und diese Idee an der Universität so voranzubringen, dass sie erfolgreich ein Startup gründen können. Zweitens, ihnen während des Studiums Verantwortung zu geben und das Knowhow zu vermitteln, mit dem sie sich selbstständig machen können.
An der Universität Bochum bieten wir schon seit 2013 ein Masterprogramm in Angewandter Nachhaltigkeit an. Wir haben einen umfassenden und ganzheitlichen Nachhaltigkeitsansatz gewählt, weil Nachhaltigkeit mehr ist als Umweltschutz und auch wirtschaftliche und soziale Aspekte beinhaltet.
1014: Was würden Sie sich in einer idealen Welt in Bezug auf die Erreichung des UN-Ziels 9, „eine widerstandsfähige Infrastruktur aufzubauen, nachhaltige Industrialisierung zu fördern und Innovationen zu unterstützen“, für Deutschland wünschen?
Energieeffizienz bei industriellen Prozessen ist wichtig, aber wir müssen auch bessere Ideen entwickeln, um Energie gar nicht erst zu verbrauchen. Zum Beispiel Bürocluster, die die Menschen in die Lage versetzen, nahe an ihrem Wohnort zu arbeiten, sodass weniger Arbeitnehmer*innen pendeln müssen. Jetzt, in der Coronakrise, wird uns bewusst: das Benzin ist billiger, die Luft ist sauberer. Das ist eine echte Chance, darüber nachzudenken, wie wir diese Praxis fortsetzen können.
Wir müssen zudem Bestimmungen und Hürden aus dem Weg räumen, die einer nachhaltigen Industrialisierung und Innovation im Weg stehen. Beispielsweise ist es sehr schwierig für eine Universität, Studierende bei der Gründung von Startups zu unterstützen, weil eine Universität keine Privatfirmen unterstützen darf – selbst wenn diese von ihren eigenen Studierenden betrieben werden.
Ein anderes Beispiel sind Firmen, die früher für die Automobilindustrie gearbeitet haben und ihre Produkte auf Elektromobilität umstellen möchten, oder Startups, die in bereits existierende Gebäude ziehen. Dies erfordert häufig eine Änderung der Baugenehmigung. Ein Hindernis für die schnelle Umstellung auf Elektromobilität ist der langwierige und komplexe Genehmigungsprozess. Hier liegt es in der Verantwortung der Staaten, den richtigen regulatorischen Rahmen für nachhaltige Praktiken bereitzustellen.
Groß denken und klein anfangen: Anreize, Subventionen und Gesetze sind eines, aber die Implementierung im eigenen Verantwortungsbereich ist genauso wichtig! Eine Stadtverwaltung könnte in ihrer eigenen Gemeinde sehr viel tun. Und wir als Bürger*innen können alle versuchen, Energie gar nicht erst zu verbrauchen.
Es ist naiv, zu glauben, dass wir unsere Industrien umstellen können, wenn wir den freien globalen Markt herrschen lassen. Es wird immer irgendwo auf der Welt jemanden geben, der wettbewerbsfähiger ist, indem er die Produkte unter Einsatz der alten Methoden billiger herstellt. Lassen Sie mich ein Beispiel nennen: Ich habe miterlebt, wie Solarenergie in Europa in sehr kurzer Zeit aufgebaut wurde, und ich habe auch mit angesehen, wie diese Industrie in sogar noch kürzerer Zeit wieder komplett zerstört wurde, weil Wettbewerb unter unfairen Bedingungen erlaubt war. Jetzt sehe ich dasselbe im Stahlbereich: Wenn ausländische Firmen, die unter weniger strengen Bedingungen arbeiten, ihre Produkte frei anbieten können, dann hat unsere Industrie, die sich in einer Umstellungsphase auf erneuerbare Energien befindet, keine Überlebenschance.
Es ist aus globaler Perspektive nicht nachhaltig, schmutzige Industrien aus Deutschland zu vertreiben, aber weiterhin schmutzige Produkte aus dem Ausland zu kaufen. Wenn wir Produkte benötigen, müssen wir die Verantwortung dafür übernehmen, wie sie hergestellt werden. Wir können nicht behaupten, Deutschland sei sauber, wenn die Produkte, die wir konsumieren, im Ausland schmutzig hergestellt und dann importiert werden. Nachhaltige Industrialisierung und Innovation erfordert einen umfassenden Ansatz.